„Sie war in diesem Boden nicht verankert. Sie lebte grundlos an der Oberfläche. Ein Wind genügte. Sie war weniger als ein Strohhalm.“
aus: Arnold Stadler, Feuerland. Salzburg und Wien 1992, S. 148
Es heißt, die Mexikaner stammen von den Mayas ab, die Peruaner von den Inkas: Vor tausenden von Jahren über die Behringstraße in den südamerikanischen Busch gewandert. Die Argentinier entstammen den Schiffen...
„Mit dem nächst möglichen Schiff wurdest du aufs Meer hinaus geschafft. Eines Morgens (ich übergehe, dass du unterwegs in Seenot warst) erwachtest du im Hafen von Buenos Aires. Du lerntest Spanisch. Die ersten Worte konntest du schon in Russland. Nach drei Wochen hat man dir eine Gegend auf der Karte gezeigt, die du bis dahin nicht einmal dem Namen nach gekannt hattest. Dahin bist du gefahren, um dort den Rest deines Lebens zu verbringen. Einverstanden? Die Schafe beißen nicht, die Gauchos sprechen nicht; und es ist heiß und kalt, alles fast wie zu Hause.“
aus: Feuerland, S. 58
Und dies nicht nur in Patagonien. Als ich Arnold Stadlers Büchnerpreis gekröntes Werk zum ersten Mal las, dachte ich: Alles fast wie in Misiones, Eldorado. Dort gibt es eine Deutsche Schule. Die Hindenburgschule. Einer jener anachronistisch anmutenden Orte, von denen es am südlichen Ende der Welt mehr gibt, als in jeder anderen Gegend auf unserem Globus. Ihr Name irritiert. Nichts vom alten Reichsadler. Als die Schule gegründet wurde, überwies der damalige Reichskanzler Hindenburg eine kleine Spende. Grund genug, die Schule nach seinem Namen zu benennen. Ich stieß auf die Hindenburgschule, weil ich dort im Dreiländereck im Norden Argentiniens zwischen Brasilien und Paraguay Prüfungen zum deutschen Sprachdiplom der KMK abnehmen sollte. Das subtropische Eldorado, Synonym für Träume und Alpträume, Hoffnungen und Enttäuschungen, ist die Heimat vieler deutscher Einwanderer. Im benachbarten Montecarlo wird man im Bäckerladen mit „Grüß Gott“ begrüßt.
„Grüss Gott! --- Vom ganzen Wilhelminischen Seeimperium blieb einzig das kleine Grüss Gott!“
aus: Feuerland, S. 37
Heute leidet diese Region an nahezu unüberwindbaren wirtschaftlichen Problemen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 50%, die Jugendlichen verlassen ihre Heimat in Scharen, diejenigen, die noch ein Anrecht auf einen europäischen Pass haben, gehen in das Land ihrer Vorväter zurück.
Mit meinen Schülern von der Pestalozzi-Schule in Buenos Aires besuchte ich Eldorado. Argentinische Landeskunde mit deutschen Immigranten. Dabei sind Reportagen entstanden wie „Ich glaube es gab in Eldorado keine Frau, die nicht geweint hat“,- „starke Frauen der Kolonie“ oder „Ureinwohner am Rande der Straße“
"Ich glaube es gab in Eldorado keine Frau die nicht geweint hat. Es war einfach zu schwer. Und der Himmel ist grau. Die Stunde geht weiter. Auf dem Sofa war es prima. Die Stimme ändert sich noch mal. Es ist wie eine Geschichte, die die Großmutter immer wieder erzählt. Ganz interessant. Mein Kassettenrecorder. Das rote Licht. Er funktioniert. Die Stimme ganz leise. Es regnet weiter. Es wird nie aufhören." (Lucia Alfonso. 11. Klasse Pestalozzi-Schule)
Die Pestalozzi-Schule wurde 1934 im Stadtteil Belgrano gegründet. Ihr Grundgedanke war es, ihren Schülern ein Ort freier, demokratischer, konfessionell ungebundener Erziehung und humanistisch orientierter Bildung zu sein, eine Pädagogik, der sich die Schule auch heute noch verpflichtet fühlt. Die Bedeutung der Schule als Asyl und neue Heimat für Flüchtlinge vor dem Nazi-Regime und ihre konsequente Haltung im antifaschistischen Widerstand machten die Pestalozzi-Schule in dieser Zeit weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Die Glückwünsche von Albert Einstein und Sigmund Freud zur Gründung der Schule sind bleibende Zeitdokumente.
Im September 1936 besuchte Stefan Zweig während eines Aufenthalts in Buenos Aires die Schule in Belgrano. Am Ende seiner berühmten Schallplatten-Rede sprach er zu den Schülern die Sätze: "Freut Euch darum, dass Ihr so jung seid, und liebt die Schule, die Euch ins Leben führt, liebt das Leben selbst und liebt Euch, einer den anderen." Heute ist die Pestalozzi-Schule eine der angesehensten Privatschulen in Argentinien.
Am 4. Mai 2001 besucht Arnold Stadler die Pestalozzi-Schule. Mit den Schülern der inzwischen dritten Generation spricht er über die Begriffe „Heimat“ und „Fernweh“. Und die „Portenos“, wie die Bewohner von Buenos Aires genannt werden, viele von ihnen die Enkel von Großeltern, die Deutschland nicht freiwillig verlassen hatten, lesen und hören von Auswandererschicksalen einer auch für sie gänzlich anderen Welt, der Welt des Südens, 3000 km von der Hauptstadt entfernt.
„Auswanderer! Dein Bild ist blass geworden. Dein Blut versickert nun anderswo. Dein Blut. Aber auch als Du noch mitten unter uns warst, haben wir nur aus Verlegenheit hinter Dir hergewinkt und hergeweint. Wir wussten nicht, was wir Dir zum Abschied sagen sollten. Der Chor sang Nun ade, du mein lieb Heimatland und blieb zurück. Der Auswanderer blieb fort.“
aus: Feuerland, S. 13
Nach der Lesung aus „Feuerland“ sagt Stadler: „Dies war die schlimmste Lesung in meinem Leben“. Walser wird zitiert: In Schulen und Gefängnissen sollte man keine Lesungen abhalten.
Was war passiert?
Die Nachkommen der Immigranten sind zwar Deutsch(als Fremdsprache)–Lerner, sind aber keine Deutsch-Leser. Verzweifelt las der Autor gegen achtzig zumeist passiv dasitzende argentinische Schüler an, die sich das Dargebotene freundlich anhörten, - ihre Lebenswelt erreichte der Text indes nicht mehr. Ein Problem, dem sich auch der Deutschlehrer täglich stellen muss. Die Enkel der Immigranten sind uns fremd geworden.
„- Grenze, dazu konnte ich mir meine Grenzen denken. Ich hatte ja gleich mehrere Grenzen zur Verfügung.“
aus: Feuerland, S. 12
Einige Tage zuvor: Auf dem argentinischen Deutschlehrerkongress und auf der internationalen Buchmesse von Buenos Aires erfährt das auf der baden-württembergischen Akademie Comburg erprobte Modell „Lehrer im Gespräch mit Schriftstellern“ seine Landesuraufführung. Egon Gramer weist in das Werk Stadlers ein, Bezüge zu Bruce Chatwin werden mit argentinischen Deutschlehrern und einigen DAAD-Lektoren erörtert.
„Ich erzählte ihm, dass meine Onkel Nueva Alemania gegründet hatten, nach dem Ersten Krieg in Pico Grande umgetauft. Ich erzählte von Wilson und Evans, den Banditen, damals in ganz Amerika gesucht und wenig später auf unserem Grundstück begraben. Das Grab habe ich ihm freilich nicht gezeigt. Chatwin hat einfach die Stelle photographiert, wo ich meinen Lieblingshund bestattete! Und das Bild kam als Banditengrab in sein Buch. Bueno, sagte ich.“
aus: Feuerland, S. 120
Literarische Spurensuche im Süden. Jeder spinnt sich seine eigene Pico-Grande-Welt zurecht. Chatwin kann Stadlers Vorwurf der literarischen Hochstapelei nicht mehr begegnen. Sein Werk ist trotzdem ein Klassiker der Reiseliteratur geworden.
„Niemand würde auf den Gedanken kommen, eine Atombombe auf Patagonien abzuwerfen, sagte er.“ aus: Bruce Chatwin, In Patagonien. Rowohlt TB S. 90
„Lehrer im Gespräch mit Schriftstellern“. Ein Konzept, welches dann auch für Schüler lebendig werden kann, wenn die Zusammenhänge anschließend vor Ort durch handlungsorientierte Unterrichtskonzepte vermittelt werden. Ausgerüstet mit dem Sudelbuch wollten wir mit den Pestalozzi-Schülern dieser Tage wieder nach Misiones fahren. Und Arnold Stadler anschließend einen Brief schreiben: „Danke für die schwerste Lesung Ihres Lebens.“ Die literarische Reise fiel der argentinischen Wirtschaftskrise zum Opfer. Auch eine Art Entmythologisierung.
„Y esas ganas tremendas de llorar
que a veces nos inundan sin razón,
y el trago de licor que obliga a recordar
si el alma está en orsai,
che, bandoneon.“
Tangotext *) von Homero Manzi
*) und diese riesige Lust zu weinen, die uns manchmal grundlos das Herz ertränkt,
und der Schnaps der zur Erinnerung zwingt, ob die Seele im Abseits steht.
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veröffentlichte Version: „Über literarische - und Lebenswelten im Land, wo der Süden endet“, in: Jahrbuch des Auslandsschulwesens 2001, Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (Hrsg.), Köln. Universum Verlagsanstalt GmbH KG, Taunusstrasse 54, D-65183 Wiesbaden
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